Schule


Das Schulwesen wurde im Zuge der Reformation eingeführt und stand drei Jahrhunderte lang unter der Aufsicht der Kirchen. In Ermatingen gab es bis 1872 konfessionell getrennte Schulen. Erst 1833 übernahm der Staat mit einem neuen Schulgesetz die Verantwortung für die Ausbildung der Thurgauer Schülerinnen und Schüler und setzte damit auch die Schulpflicht durch.


Schule im Wohnzimmer des Pfarrers: "Zucht und Geschrifft zu underwysen und zu lehren"

Zwingli-Bibel
Zwingli-Bibel

Es war ein zentrales Anliegen der Reformation, dass jedermann die Bibel in seiner Muttersprache lesen können sollte.

 

So wurden unter der Obhut der reformierten Kirche ab 1530 in den meisten Thurgauer Dörfern die ersten Schulen eingerichtet, wobei der Pfarrer die Kinder gleich selbst in seiner eigenen Wohnstube unterrichtete.

 

In Ermatingen ist eine solche Pfarrschule seit 1536 belegt.



Neue Schulmeister - "geförchtet und geliebet"

Bald erlebten die Pfarrherren aber die Bürde des Unterrichts am eigenen Leibe und stellten fortan lieber einen Schulmeister ein.

Ein wichtiges Kriterium bei dessen Anstellung war jeweils, ob er auch eine genügend grosse Wohnstube für den Unterricht zur Verfügung stellen konnte.

Nicht selten handelte es sich bei diesen Lehrern um Tagelöhner, invalide oder ausgediente Söldner, Kleinbauern oder Handwerker (oft auch um "junge leüten ohne hinlängliches ansehen"), und einige unter ihnen hatten mit Buchstaben, Zahlen oder gar Musiknoten selbst ihre liebe Mühe.

Man liest oft von gegenseitigem Streit und Uneinigkeit zwischen Pfarrherren und Schulmeistern sowie Unzufriedenheit der Eltern. Mancherorts wurde die Lehrkraft jährlich wieder entlassen.


Diese Schulmeister waren aber um ihre Aufgabe auch nicht zu beneiden:

Karikatur über das Schulwesen 1825
Karikatur über das Schulwesen 1825
  • sie hatten 60 bis manchmal über 100 Schüler in einem einzigen Raum zu unterrichten
  • die Schüler wurden, wenn überhaupt, in drei Abteilungen eingeteilt: die ABC-Schützen lernten die Buchstaben kennen, die Fortgeschrittenen buchstabierten und erst die Grossen konnten lesen oder gar schreiben. Rechnen wurde anfangs kaum unterrichtet.
  • als Lehrmittel dienten vor allem der Katechismus und die Bibel
  • Der Unterricht war nicht eben schülergerecht:
    das Auswendiglernen von Katechismus, Bibelsprüchen und Kirchenliedern beanspruchte viel Zeit; ebenso das Abschreiben von sogenannten «Vorschriften» (Textvorlagen).
  • Vom kärglichen Lohn weit unter dem Ansatz eines Tagelöhners konnte kein Lehrer leben; jeder war auf einen Nebenerwerb angewiesen

(noch vor 100 Jahren klagte mein Urgrossvater, Lehrer in Bottighofen, dass er mit seinen Bienen mehr verdiene als mit den 96 Schülern...)



Die Schülerzahl den Sommer über war aber gering: die Kinder wurden zuhause für die Landarbeit gebraucht, der Sinn der Schule war nicht allen Eltern einsichtig, und schlussendlich konnte so auch das wöchentliche Schulgeld gespart werden.

Ausbürger und Hintersassen ohne Gemeindebürgerrecht hatten sich übrigens zusätzlich in die Schule einzukaufen.


Erstes Schulhaus im Usserdorf


Erstes katholisches Schulhaus am Blumenweg

Die konfessionelle Rivalität spiegelte sich nicht nur in kirchlichen Angelegenheiten, sondern auch in schulischen: 1765 zogen die Katholiken nach und errichteten wie die Evangelischen eine eigene Schule am Blumenweg 2.

Sie war sogar eine "Freischule", das heisst, dass ein Legat resp. eine Stiftung für die Schulgelder der Kinder aufkam.

erstes katholisches Schulhaus am Blumenweg 2
erstes katholisches Schulhaus am Blumenweg 2

Übrigens: Mit dem neuen kantonalen Schulgesetz von 1833 wurden die konfessionell getrennten Schulen vereinigt. Ermatingen sträubte sich bis zuletzt mit allen Mitteln dagegen und musste als letzte kantonale Gemeinde durch Regierungsratsbeschluss zu diesem Schritt gezwungen werden.


Das Gewicht eines Ochsens

Ach ja - hätten Sie wohl 1758 das Gewicht dieses Ochsens berechnen können...?

Schulblatt Nr. 11; 1983
Schulblatt Nr. 11; 1983

Neue Schulhäuser in der Frühmesse und an der Hauptstrasse

An beiden Orten wurde der Schulraum auch wieder zu eng: Die Katholiken zogen in die Frühmesse weiter, die Evangelischen an die Hauptstrasse, wo heute das Gebäude der TKB steht (das also einen Wechsel von der Förderung ideeller und geistiger Werte hin zu materiellen Werten vollzogen hat...).


(beide Fotos stammen aus der Festschrift zur Einweihung des Primarschulhauses Ermatingen; H. Steiger 1952)


Die Stapfer-Enquête von 1799

Der Erziehungsminister des neuen Einheitsstaates der Helvetischen Republik, Philipp Albert Stapfer, liess bei allen Schweizer Schulen 1799 eine Umfrage über die Schulsituation durchführen: die "Stapfer-Enquête".

 

Sie gibt einen interessanten Einblick in den damaligen Schulalltag.

Studieren Sie zuerst einen Auszug aus der evangelischen Schule:



... und hier natürlich noch die katholische:


Die vollständigen Berichte über die beiden Schulen können Sie hier downloaden:

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Evangelische Schule Ermatingen 1799.pdf
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Katholische Schule Ermatingen 1799.pdf
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Der "förchterlichste Schlendrian"

dieses Mädchen führte wohl noch keinen Schlendrian - Foto Hans Baumgartner
dieses Mädchen führte wohl noch keinen Schlendrian - Foto Hans Baumgartner

1803, nach dem Ende der Helvetischen Republik, fiel das Schulwesen wieder unter konfessionelle Aufsicht, was der Schule nicht gut bekam. Zu sehr musste gespart werden.

 

Ein Schulinspektor klagte über die Unterschule Ermatingen, die Zahl der Absenzen sei so enorm, dass er sich schäme, diese zu addieren - 200 pro Jahr kämen sehr oft zum Vorschein.

Und heute stehen unsern armen Schülern höchstens 2 Jokertage zu...

 

Johann Adam Pupikofer beklagte 1837 den bedenklich tiefen Bildungsstand der Thurgauer Bevölkerung und den "fürchterlichsten Schlendrian" an Thurgauer Schulen.

 

Zum Glück ist das heute ganz anders!



Schuljugendfeste beim Napoleonturm "Belvédère"

Schulreisen im heutigen Sinn gab es noch nicht; die Eisenbahnen waren noch gar nicht gebaut. Dafür feierte man Schuljugendfeste - zwei Mal beim historischen Napoleonturm in Hohenrain / Wäldi. Dorthin kommt man gut zu Fuss, und er ist eine der wenigen Attraktionen im Thurgau, schon damals.

Ebendieser J. A. Pupikofer hatte die Aussicht vom Turm als den "Typus aller Thurgauischen Schönsichten" bezeichnet.



Klassenfoto aus Ermatingen ums Jahr 1900 mit nur noch 50 Schülern; Lehrer Hermann Steiger
Klassenfoto aus Ermatingen ums Jahr 1900 mit nur noch 50 Schülern; Lehrer Hermann Steiger

Klasse Blattner im Jahre 1905
Klasse Blattner im Jahre 1905

Das Schulturnen - ein "unverständliches und absonderliches Gebaren"

Turnstunde - Albert Anker
Turnstunde - Albert Anker

Der neu eingeführte Turnunterricht 1875 stiess auf grossen Wiederstand der Bevölkerung, denn der Sinn der verschiedenen Freiübungen und des Geräteturnens war nicht überall offensichtlich.


Trotzdem errichtete Ermatingen 1911 diese Turnhalle an der Poststrasse, in der viele von uns noch selbst in die Jugi gegangen sind und mit scharfen Bällen den Gips von der Decke geschossen haben:

die Turnhalle an der Poststrasse; Foto 1918
die Turnhalle an der Poststrasse; Foto 1918

sie hat als erste in dieser Turnhalle geschwitzt: die Klasse Wetzel 1912
sie hat als erste in dieser Turnhalle geschwitzt: die Klasse Wetzel 1912

Ein Gedicht aus dem Nebelspalter 1913

aus dem Nebelspalter 1913
aus dem Nebelspalter 1913


Ist vielleicht noch jemand Ihrer Vorfahren 1926 zu Herrn Steiger zur Schule gegangen...?


Der Neubau des Sekundarschulhauses


Der Neubau des Primarschulhauses 1952


Video aus dem Schulmuseum Amriswil; M. Seiterle


Im Schulzimmer wurde dann täglich mit dieser Einmaleins-Tabelle gearbeitet - können Sie es eigentlich noch...?


Hedi Blattner erzählt, wie sie als erste Frau ihre Stelle in Ermatingen bekommen hatte:


Die Entwicklung der Schulschrift


Pausenspiele

Erklären Sie Ihren Kindern einmal, dass es früher andere Pausenspiele gegeben hat als heute!



Tüchtige Schulmeister

Der Volksschriftsteller Jakob Stutz erkannte das Geheimnis einer guten Schule schon vor zwei Jahrhunderten:

"Aber sonderbar – wo tüchtige Schulmeister am Werk waren, lernten die Schüler trotz der mangelhaften Lehrmittel doch etwas Rechtes.

 

So freuen wir uns, dass in Ermatingen tüchtige Schulmeister am Werk sind - oder sollen wir nun sagen "Schulmeisterinnen und Schulmeister, Schulmeister/Innen, Schulmeister:innen oder Schulmeister*innen?


Nochmals zum Thema Wokeness und Gender-Sensibilität: In meinem Zeugnis von Hedi Blattner aus dem Jahre 1965 wurde bei den Personalien meine Mutter nicht einmal erwähnt...

Sie nahm's gelassen und meinte, es sei ja schon klar, wer jeweils die Mutter sei, da bestehe eher Klärungsbedarf bei den Vätern...